Windfänger

Wir aßen schweigend.
Nur mein Bruder faselte, verrückt wie er ist, irgendwelchen Müll vor sich hin.
Ich starrte auf den Saftkarton und versuchte, an gar nichts zu denken und alles auszublenden.
Doch als er plötzlich fragte, ob ich ihre Tochter sei, hörte ich unweigerlich auf.
Ich hielt im Kauen inne und lauschte gespannt in die plötzliche Stille. Ich wusste schon, was sie sagen würde.
Sie schien eine gefühlte Ewigkeit zu zögern, dann sagte sie jedoch mit einer mir schon längst bekannten Kühle in der Stimme
''Heute nicht.''
Ich kaute weiter und lächelte in mich hinein, während ganz tief in mir diese scheiß Wut wieder aufkam.
Das war so typisch für sie!
So impulsiv, vulgär und unglaublich temperamentvoll.
Wenn ihr etwas nicht passt, wird es eben passend gemacht.
Wenn ich ihr mal nicht passe, stopft sie mich gleich in die nächstbeste, stinkende Mülltonne, um mich kurz darauf wieder rauszuholen. Dann tut sie wieder, als wäre nichts, aber auch wirklich gar nichts, gewesen und versucht wieder, mir so viel Liebe in den Arsch zu rammen, bis es mir oben rauskommt.
Das kann's doch nicht sein, dachte ich.
Sie kann sich nicht aussuchen, wann ich ihre Tochter bin und wann nicht !!
Das hätte sie sich früher überlegen sollen, ob ich überhaupt ihr Kind werde..

Während ich mich mental auf den mir bevorstehenden Tag vorbereitete, welcher definitiv mit (für meinen Geschmack) viel zu vielen Kindern zu tun hatte, machte mein kleiner Bruder mich nebenbei verbal fertig. *
Ich ging nicht auf seine Provokationen ein.**

Der Tag in der Kita war dann, wie erwartet, schrecklich laut. Schon bald war ich unendlich erschöpft.
Und nicht, weil die Kinder anstrengend waren.
Sondern weil Interesse und Spaß zu heucheln so verdammt kräftezehrend ist.
Trotz allem hatte ich viel Zeit zum Nachdenken, vor allem, als wir draußen waren. Das Gelände ist unübersichtlich und so konnte ich mich in eine Ecke verziehen, wo mich meine Anleiterin nicht sehen konnte, um mir den Kopf darüber zu zerbrechen, warum ich immer die bösartige, verrückte Schreckschraube bin, die alles falsch macht.
Schon bald kamen ein paar Mädchen und wollten, dass ich ihnen beim Klettern zusah. Während ich das tat bzw. immer wieder versuchte, schweifte ich ab. Ich beobachtete die vielen Baumkronen und wie die Sonnenstrahlen alles in ein tanzendes Spiel aus Schatten und Licht verwandelten. Als ich wieder zu den Mädchen sah, bemerkte ich die auffällige Form eines Ohres des Mädchens, welches eher als Außenseiterin gilt. Als sie sich umdrehte und ich ihr anderes Ohr betrachtete, war dieses völlig normal. Also versuchte ich immer wieder einen Blick auf ihr spitzes Ohr zu werfen, welches exakt so aussieht, wie ich mir ein ''Elfenohr'' vorstelle.
Ich dachte mir die verrücktesten Geschichten zu diesem Mädchen aus, aber ich versuchte auch, realistische Gründe für diese faszinierende Form ihres rechten Ohres zu finden.
(Das wilde Spekulieren über ihre (unwahrscheinliche) Herkunft fand ich dann aber doch besser)
Und während ich dies tat, konnte ich endlich meine ganzen Probleme, welche ich mir eingebrockt hatte, nur weil ich mich wegen eines Missverständnisses nicht rechtfertigen wollte***, für den Rest des Nachmittages vergessen.

Danke dir, kleines Elfenohr ;)


Eure Gleyfin


P.S. Ich dachte auch darüber nach, wie das kleine Mädchen wohl aussehen wird, wenn sie erwachsen ist und was dann aus ihrem Ohr wird. Sie wird es bestimmt operieren lassen, dachte ich und ich war betrübt, weil ich ihr nicht sagen konnte, dass sie es so lassen sollte, weil das etwas ganz Besonderes ist. Schließlich ist sie noch so klein..



*Ich wusste schon immer, dass ich keine Menschen leiden kann und kleine Kinder erst recht nicht. Doch mein Bruder ist mit Abstand eines der schrecklichsten Ausgeburten von Kindern, welche mir je in den Sinn gekommen sind und jemals kommen werden.
Er ist einer von wenigen (insgesamt sind es 5) Menschen, welche ich abrgundtief verabscheue und hasse.
Ich hasse ihn dafür, dass ich, als ich in seinem Alter war, öfter geschlagen wurde, als er jetzt. Ich hasse ihn dafür, dass ich viele Stunden in der Ecke verbrachte, während sie es bei ihm nicht ein mal versucht. Ich hasse ihn dafür, dass er ist, wie er ist (ein wenig Eifersucht steckt auch dahinter, das gebe ich offen zu).
Sie hatte dafür schon immer nur die gleiche Ausrede parat:
''Weil er anders ist als du, darum!''
Weil er 'besser' ist, meint sie wohl ..


** Für gewöhnlich würde ich immer austicken, doch seitdem ich mich dermaßen ins Aus katapultiert habe (und das mit voller Absicht), indem ich mich ein einziges Mal nicht vor meiner ''Mutter'' rechtfertigte, rede ich mit niemandem mehr (außer mit meiner ''Stiefschwester'', die aber auch noch keine Ahnung hat, wie scheiße gerade alles ist, da sie nämlich nicht mehr als verblendet und oberflächlich ist).

*** weil sie sowieso wieder alles so verdreht hätte, damit ich als Schuldige dastehen würde...